Dr. Erwin Teufel, ehemaliger Ministerpräsident von Baden-Württemberg, im FAZ-Interview

Datum:
So. 31. Juli 2011
Von:
Ex-Ministerpräsident Dr. Erwin Teufel

Einer meiner Landsleute, ein großer Nationalökonom, Friedrich List, hat vor 160 Jahren gesagt, die Aufzucht von Schweinen gehe in das Bruttosozialprodukt ein. Die Aufzucht von Kindern geht nicht in das Bruttosozialprodukt ein. Wir sind 160 Jahre später keinen Schritt weiter. Selbstverständlich gehen die Erziehung eines Kindes im Kindergarten, die Betreuung eines Kindes im Hort in das Bruttosozialprodukt ein, und die Erzieherin bekommt einen Lohn. Selbstverständlich geht die Leistung einer Grundschullehrerin in das Bruttosozialprodukt ein, und sie wird bezahlt, und ich habe den größten Respekt vor unseren Grundschullehrerinnen - meistens sind es ja Lehrerinnen - die sechs und acht und zehn Nationen in einer Klasse haben. Sie bringen einen größeren Beitrag für die Integration von Ausländern als alle Parlamente zusammengenommen.

Aber: Die Erziehung einer Mutter, die Erziehung eines Vaters geht nicht ins Bruttosozialprodukt ein. Eines hat sich jedoch verändert in diesen 160 Jahren. Heute ist etwas nur noch etwas wert, wenn es in Geldwert ausgedrückt werden kann. Und was nicht im Geldwert ausgedrückt werden kann, ist nichts wert. Und deswegen ist die Erziehung in einer Familie nichts wert, obwohl von ihr alles abhängt und für alles der Grund gelegt wird. Ein Kind wird zum Leser in der Familie oder nicht. Ein Kind gewinnt Sprachkompetenz in der Familie. Das kann gar nicht mehr in der Grundschule nachgeholt werden oder im Kindergarten. Ein Kind lernt spielen, ein Kind lernt teilen, ein Kind lernt streiten und versöhnen, ein Kind lernt ein Urvertrauen in der Familie - oder nicht.

Und das alles nennen wir Erziehungs-"Urlaub"! Aber es ist Erziehungsarbeit und sollte auch vergütet werden. Familien mit einem Normaleinkommen und mehreren Kindern geraten heute in Deutschland an den Rand des Existenzminimums. Es geht bei ihnen am Ende des Monats null auf null auf. Und für den außergewöhnlichen Fall ist überhaupt keine Reserve vorhanden. Und der außergewöhnliche Fall ist bereits, wenn die Waschmaschine kaputtgeht und ersetzt werden muss, der außergewöhnliche Fall ist, wenn zwei Kinder gleichzeitig in ein Schullandheim gehen müssen und man muss zwei-, dreihundert Euro auf den Tisch legen und die müssen sie mitbringen in die Schule.

Man muss sich mal wirklich hineindenken in die Situation dieser Familien. Sie sind auch besonders betroffen von der Steigerung der Nahrungsmittelpreise, von der Erhöhung der Mehrwertsteuer, von der geplanten starken Erhöhung der Strompreise.

In der Familienpolitik muss sich das "C" zeigen: Das Wohl des Kindes muss Vorrang haben vor den Interessen der Wirtschaft. In einer Anerkennung und finanziellen Anerkennung der Erziehungsleistung der Eltern, in einer vorrangigen Hilfe für Familien mit einem Normaleinkommen und mehreren Kindern. Früher gab es ein von der CDU eingeführtes Bundeserziehungsgeld für zwei Jahre. Es war von niedrigen Einkommensgrenzen abhängig. Das Erziehungsgeld ging also an Eltern, die es am dringendsten brauchten.

Heute hat die CDU ein Elterngeld geschaffen. Es wird aber nur noch ein Jahr gewährt und ist an das letzte Nettoeinkommen gekoppelt. Eine Mutter, die als Kassiererin im Supermarkt arbeitet, erhält also etwa 600 Euro im Monat, eine Bankkauffrau 1200 Euro und eine Akademikerin 1800 Euro. Mütter mit dem geringsten Einkommen erhalten den niedrigsten Betrag. Das ist die größte Ungerechtigkeit, die man sich denken kann.