Bamberg – Familien müssen im Alltag wieder mehr Zeit für sich haben dürfen. Ihre Ansprüche auf ein Miteinander dürfen nicht ökonomischen Überlegungen geopfert werden. Vielmehr sollten Eltern, die ihre Arbeitszeit verringern, um sich den Kindern oder auch älteren Menschen zu widmen, finanziell und in der Rente für ihre Care-Arbeit vernünftig ausgestattet werden. Dies forderte der Politologe und Referent für Erwachsenenbildung, Bernhard Suttner, im Bamberger Bistumshaus. „Familie – Chancenlos im 24-Stunden-Rennen?“ fragte er bei einem familienpolitischen Vortrag, zu dem der Familienbund der Katholiken eingeladen hatte.
Warum wird uns die Zeit heute zu einem Problem, wovon wir doch dank besserer medizinischer Versorgung als früher, dank industrieller Errungenschaften und immer mehr Digitalisierung mehr zur Verfügung haben sollten? Das Problem ist laut Suttner, dass in 24 Stunden immer mehr unterzubringen ist, Arbeit und Freizeit, Kommunikation und Selbstoptimierung, Haushalt und gesellschaftliches Engagement. Und da gibt es noch den Zeitfaktor Familie, die Eltern-Kind- und die Paarbeziehung.
Die gesellschaftlich-ökonomischen Rahmenbedingungen hätten sich in den letzten Jahrzehnten zuungunsten von Familien, Partnerschaften und vor allem zuungunsten der Kinder geändert, sagte Suttner. Die Reduktion von Familienzeit bilde einen Paradigmenwechsel in der Familienpolitik ab. Der Staat habe sich, wie aus zahlreichen Positionspapieren und ministeriellen Leitfäden ersichtlich sei, die Sichtweise der Arbeitgeber angeeignet: Ein längeres Verbleiben von Eltern zuhause zum Zweck der Versorgung von Kindern könne zu einem Rückgang der Zahl der Erwerbspersonen und zu schwächerem Wachstum führen. Selbst das Elterngeld werde nicht ausdrücklich als Anerkennung der familiären Sorge-Arbeit, sondern als Ausgleich für entgangene Löhne verstanden: „Man spürt: Es geht gar nicht um Familie. Es geht um Wirtschaft.“ Dem selben Ziel dienten auch Forderungen nach einer Ausweitung der außerfamiliären Betreuung von Kindern, etwa einer Ausweitung der Kita-„Randzeiten“. Alles habe Vorteile für die Steigerung des Bruttoinlandsproduktes (BIP).
Zeit zu haben scheine heute ein „verdächtiger“ Zustand zu sein, scheine von mangelnder Nützlichkeit zu zeugen, vermutet der Referent. Zugleich klagten viele Familien über Zeit-Not und Zeit-Druck. Denn je knapper die Stunden, desto schärfen sei die Konkurrenz zwischen Kinder-, Paar- und Individualzeit. Die gemeinsamen Stunden nach Arbeitsende, mit dem Stichwort „Quality time“ beschrieben, reichten oft nicht aus, um Familien eine „gute Zeit“ zu geben, um sie zu entlasten und den Bindungsbedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Letztlich seien ausreichend mit Zeit versehene und daher stabile Familien auch eine Voraussetzung für gesellschaftliche Stabilität.
Was sollte getan werden, um den Zeitwohlstand der Familien zu verbessern? Bernhard Suttner erinnerte an die Forderung eines „bedingungslosen Grundeinkommens“. Wichtiger ist nach Ansicht des Referenten jedoch, die lange vernachlässigte Care-Arbeit wieder mehr in den Blick zu nehmen. Suttner plädierte für ein Grundeinkommen für diejenigen, die Sorge-Leistungen erbringen: „Familie muss wenigsten ein bezahlter Teilzeit-Arbeitsplatz werden!“ Gleichberechtigt mit der Erwerbsarbeit solle Familienarbeit für eine „ordentliche“ Altersversorgung wirksam werden. Dazu müsse das Sozialsystem anders finanziert werden.
Daneben bräuchte es mehr gesellschaftliche Anerkennung und eine Neubewertung der familiären Sorgearbeit. Ein Werte- und Bewusstseinswandel sei notwendig. Denn ein gutes Leben bedeute nicht nur die Erfüllung materieller Bedürfnisse. Der Referent verwies auf Autoren, die von einer, auch ökologisch notwendigen, Reduktion der Erwerbsarbeit mehr Zeit für alles erwarten, was sonst noch zur menschlichen Existenz gehört, Familienzeit, aber auch Kreativität, Spiritualität und soziales Engagement.
Viel zu wenig, so Suttners Kritik, habe sich bisher die Familienlobby mit diesem Thema befasst. Und auch die Kirchen sieht der ehemalige Landesvorsitzende der ÖDP diesbezüglich in der Verantwortung. Bernhard Suttner warnte jedoch davor, sich im Kampf für mehr Familienfreundlichkeit die falschen Partner zu suchen. Sich mit rechtsextremen Gruppierungen zusammenzutun, sei „hochgefährlich“.
Eingangs hatte die Diözesanvorsitzende des Familienbundes, Christiane Kömm, die Position des Verbandes zum Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf deutlich gemacht.